(4) Gemächt

Der vierte Teil einer Stunde, und die Reisenden aus Carcosa würden von Neuem aufbrechen. Pol war noch einmal auf die Ruine des Turms gestiegen. Die Morgensonne sandte Bahnen aus freundlichem Licht über das sumpfige Gelände, das vor ihm und seinen Begleitern lag. Sie machten das Bild nicht wesentlich einladender.

Braunes Ungefähr, so weit das Auge reichte. Und Pol hätte schwören können, dass sich die Zahl der lichtschnellen, giftgrünen Etwasse in den Wasserlachen seit dem vergangenen Abend mindestens verdoppelt hatte. Voller Ungeduld auf die Beute lauernd, die sich in Kürze in ihre Reichweite begeben würde. Doch er würde nicht nachzählen. Stattdessen würde er sich auf den Weg durch die Sümpfe machen, durch den Verbotenen Wald, die Wüste von Pal und so weiter und so fort bis in die Höhen von Schattenfall, die Heimstatt der Vergessenen Götter. Genau das, was Carcosas Hoher Rat von ihm erwartete. Dass der Gesandte sich die Sache noch einmal anders überlegte, würde Fra Théus zu verhindern wissen. Und das Ehrengeleit natürlich.

Pol sah in die Tiefe. Die Schar umfasste drei Dutzend Streiter, und ihm war nicht entgangen, dass seit dem Aufbruch aus Carcosa zu jedem Zeitpunkt mehrere Männer unmittelbar vor ihm und mehrere andere direkt hinter ihm ritten. Kurz nachdem die Stadt außer Sicht geraten war, hatte sich die kaiserliche Straße in eine schlammige Piste verwandelt; sonst hätten sich mit Sicherheit auch noch Reiter links und rechts an seine Seite geheftet. Sie sollten auf ihn achtgeben, hatte der edle Adorno befohlen. Das ließ sich so oder so übersetzen.

Dabei handelte es sich nicht um irgendwelche Söldner. Pol sah Kettenrüstungen und schwere Helme, sah Panzer, die selbst die Leiber der Pferde schützten. Die Streiter des Arthos Gil hatten schon mehr als eine Schlacht entschieden. Und der kühne Gil selbst war ohnehin eine Legende, die in den Liedern und Erzählungen über jedes spektakuläre Gefecht der vergangenen Jahre ihren Platz hatte. Einzig Arthos Gil war es zu verdanken, dass das Kaiserreich Escalon hatte halten können, seinen letzten und stärksten Stützpunkt an den Küsten von Atabas. Einzig Arthos Gils überraschender Flankenangriff hatte den Ansturm der Barbarenvölker zum Stehen gebracht, als die Tore zur Steppe schon zu wanken schienen. Und sei es, dass sich zwei Schlachten zur selben Stunde des selben Tages ereignet hatten, an exakt  entgegengesetzten Enden der Welt allerdings: Arthos Gil war bei beiden dabei gewesen und selbstredend hatte er in allen beiden den Sieg davongetragen.

Und jetzt saß er auf einem moosüberzogenen Steinblock zu Füßen des Turmes. Seine berühmte silberne Rüstung schien im Schatten des Gemäuers aus sich selbst heraus zu leuchten. Das mächtige Schwert aus vierzehnfach gefaltetem sinopischem Stahl balancierte er auf den Knien. Kein anderer Mann, so hieß es, sei auch nur in der Lage, die Klinge anzuheben. Nicht dass der kühne Gil es zugelassen hätte, dass irgendwer dem Heft der Waffe jemals nahegekommen wäre, um den Beweis für das Gegenteil anzutreten. In diesem Moment lagen seine Augen allerdings auf zweien seiner Männer, die mit schweißglänzenden, entblößten Oberkörpern ihre Kräfte maßen, waffenlos, doch voller Konzentration.

Einer der beiden hatte Korsarenblut in den Adern, seiner dunklen Haut nach zu schließen. Seinem Gegner war es bereits gelungen, ihm einen heftigen Faustschlag zu versetzen, so dass er schmerzerfüllt die Hand auf die rechte Schulter presste. Sein Gang war unsicher, als er langsam zwei Schritte zurückwich. Dort war nicht mehr viel Platz. Mehrere der aus dem Mauerwerk des Turms gebrochenen Steinblöcke bildeten eine Art Balustrade, doch dahinter ging es zwanzig Fuß abwärts den trüben Wassern entgegen, in denen die Froschkreaturen ihre Kreise zogen.

Der Widersacher des Jungen kam mit ruhigen Schritten auf ihn zu. Sein Schädel war kahl, und er überragte den Korsaren beinahe um Haupteslänge. Jetzt entdeckte Pol die wulstigen Narben auf seinem Rücken: Ein Galeerensträfling, und nur die Korsaren setzten auf ihren Schiffen Sklaven ein, denen die Peitsche den Rücken blutig schlug. Pol biss sich auf die Unterlippe. Die Knechtschaft auf den Ruderbänken war die Hölle, wie die wenigen berichteten, die die Tortur überlebt hatten. Ein rascher Tod sei gnädiger. Selbst wenn die beiden nun zur selben Schar gehörten, konnte der Riese kaum vergessen haben, was die Stammesbrüder des Jungen ihm angetan hatten.

Der Korsar machte einen weiteren Schritt rückwärts, stieß mit der Ferse gegen einen der mächtigen Steine, musste sich mit der Hand aufstützen.

Angespannt betrachtete Pol die Szene. Der Junge konnte sich jederzeit ergeben. Arthos Gil hatte kein Interesse daran, dass seine Männer sich gegenseitig erschlugen. Als Besiegter aber würde der dunkelhäutige junge Mann an einem Platz weiter hinten im Zug reiten, fern vom allseits verehrten kühnen Gil. Und das bedeutete eine Kränkung, ja, eine Entehrung. Die Lieder berichteten von Angehörigen der Schar, die lieber den Tod in der Schlacht gesucht hatten, anstatt am Ende des Zuges zu reiten, bei jenen, die eben erst frisch dem Gefolge Arthos Gils beigetreten waren.

Der Riese schien einen Augenblick zu warten, ob der Korsar seine Niederlage eingestehen wollte. Von diesem aber kam nichts als eine störrische Kopfbewegung. Mühsam löste er sich von dem Steinblock, stand wieder aufrecht.

Pol konnte sehen, wie sich die Muskeln über dem breiten Kreuz des Riesen anspannten, als er Luft holte, einen Schritt auf den Korsaren zu machte. In diesem schoss der Junge vor, die unverletzte Schulter voran dem Riesen entgegen. Pol konnte nicht beobachten, wie sie in Brust und Bauch des Gegners traf, der Körper des hünenhaften Kriegers war im Weg.

Doch der Riese schien die Attacke kaum bemerkt zu haben. Sein muskelbepackter Arm hob sich zum Schlag wie das tonnenschwere Widerlager eines Katapults.

„Uffz.“

So klang der Laut. Er war noch für Pol zu hören, und es war ein recht kurzer Laut, auf den für die Dauer eines Atemzuges Stille folgte.

Erst als der Oberkörper des Riesen sich langsam, seltsam ziellos nach vorn beugte, begriff Pol, wer ihn ausgestoßen hatte. Und erst als der junge Korsar sich auf den Knien zur Seite warf, um nicht unter dem Leib des Gegners begraben zu werden, während er nun mit der linken Hand die rechte Faust umklammerte … Erst da konnte Pol sich zusammenreimen, was passiert sein musste. Wie der Korsar, schon am Boden, einen letzten, verzweifelten  Schlag angebracht hatte und auf welchen höchst empfindlichen Punkt er gezielt haben musste. Wobei dieses Detail möglicherweise eher aus den plötzlich sehr blassen Gesichtern der Krieger zu erschließen war, die die Szene verfolgten und einen besseren Blick hatten. Ein oder zwei von ihnen pressten unwillkürlich die Hände vor den Schritt.

Das galt in einem Ehrengeleit als ehrenhaft?