Zur Gegenwart des Fantastischen – Ein Gedanke

Das Fantastische existiert nicht im luftleeren Raum. Erst vor dem Hintergrund dessen, was ist, wird das, was nicht ist, vorstellbar. Das Fantastische ist ein Reflex auf die aktuelle Wirklichkeit.
Die Düsternis und Tiefe des ‚Herrn der Ringe‘ ist kaum vorstellbar ohne die finsteren Zeiten, in denen das Buch entstand. Dass J.R.R. Tolkien sich immer dagegen gewehrt hat, das Werk als Chiffre verstanden zu wissen, sei ihm unbenommen. Den zugrundeliegenden Mechanismus hebt das eher noch hervor. Marion Zimmer Bradley dagegen hat für ihre ‚Nebel von Avalon‘ im Sinne einer veränderten Wirklichkeit (und einer aktuellen Message) sehr bewusst den Layer der Hippie-Ära und des Feminismus über eine sehr viel ältere Schöpfung der Fantasie – den Artus-Sagenkreis, die Matière de Bretagne – gelegt.
Disruptive Tendenzen wohnen dem Genre dabei traditionell inne. Tolkien wie Zimmer Bradley konstruieren eine akribisch ausgeformte fantastische Welt und schildern sie im Prozess ihrer Zerstörung und Verwandlung. Das Prinzip scheint vorgegeben, wird auch in den auflagenstarken Bänden zur Game of Thrones-Serie wie selbstverständlich eingesetzt.
Wie aber sieht fantastische Literatur in einer Zeit aus, die selbst disruptiv wird? Die Elemente sind an ihrem Platz, können als Zeichen aber selbstverständlicher dechiffriert werden. Die Menschen aus von Kriegen und Naturkatastrophen veheerten Gebieten, die unter dem Mantel des Kaiserreiches Schutz suchen, sind ein Bild, nach dessen Entsprechung in der Wirklichkeit gar nicht erst geforscht werden muss. Die Magie der Esche, die im Geflecht der Wurzelaustriebe an jedem Ort der Welt gegenwärtig ist, lädt ein zu ein zur Identifikation mit den digitalen Nervenbahnen des World Wide Web, der Globalisierung allgemein.
Dem Genre kommt damit eine neue Bedeutung zu. Lange Zeit als eskapistisch abgetan, tritt seine Stärke jetzt klar hervor. Das Fantastische wird die Welt keineswegs immer durch eine rosarote Brille betrachten, wohl aber durch getönte Gläser, die Nuancen des Gesehenen klarer hervortreten lassen und ungeahnte Anregungen vermitteln können. Wir wären ärmer, schwächer und blinder ohne die Fantasie.